Abschied nehmen Ausräumen, erinnern, versöhnen

02.03.2016 19:57

Abschied nehmen bedeutet Gefühle sortieren

Marlene erbat sich von ihrem Bruder einen "Vorsprung". Sie wollte allein sein mit den Gedanken an die Mutter, allein an diesem intimen Ort. Einen Tag lang, aufräumen, ausräumen und sich erinnern in den Räumen, in denen die Seife im Bad und die Seidenstrümpfe über der Stuhllehne noch Mutterleben atmeten. Die Mutter für sich haben - was für ein Paradox, nachdem sie im Sarg lag. Weil es das letzte Mal war. Jedes Gefühl, jeden Gedanken bewusst erleben. Abschied. Von der Mutter, der Kindheit. Man hätte sich noch viel zu sagen gehabt.

Die halb geleerte Tasse Pfefferminztee stand auf dem Küchentisch, die aufgeschlagene Fernsehzeitung lag daneben. Als ob die Verstorbene nur eben ins Bad gegangen wäre. "Sieh her", würde sie vielleicht sagen, "alles wie immer." Ferngesehen, ins Bett gegangen, Tee gekocht, wieder ins Bett, friedlich eingeschlafen, der Tochter das Aufräumen überlassen.

 

Nie war ich meiner Mutter physisch und psychisch so nah.

"Nie war ich meiner Mutter physisch und psychisch so nah", sagt die 57- Jährige, "wie in diesem Moment, als sie gar nicht mehr da war." Es war kein unheimliches Gefühl, sondern ein warmes. Überraschend vertraut sogar, solche Momente hatte Marlene mit ihrer Mutter selten erlebt. Denn im Gegensatz zum kränkelnden, wohlbehüteten Bruder war sie immer total pflegeleicht, "geländegängig" gewesen. Der Vater früh gestorben, da war die Mutter froh, dass die Tochter ihren Weg durch Schule, Studium und Beruf selbständig und unabhängig machte. Und doch hätte Marlene gern "auch einmal gekümmert gekriegt", wie sie als Kind sagte. Sogar Kieselsteine hatte sie geschluckt, um krank und endlich einmal beachtet zu werden.

Fast ehrfürchtig sortierte sie die Wäsche der verstorbenen Mutter. Stille, und doch war ihr, als würde sie von der Mutter begleitet. Sie öffnete Schrank um Schrank und ging die Dinge durch. Wanderschuhe und Strickjacke, deren Geruch sie kannte. Mutterspuren. Sie zog Schublade für Schublade heraus, bis sie erschrak. Bastelsachen aus der Schulzeit, ihre Briefe und Postkarten. Darauf war sie nicht gefasst. Alles, was Marlene ihrer Mutter je geschenkt oder geschickt hatte, kam zum Vorschein. Die Mutter hat sie sorgsam gesammelt, ihre Berichte und Reportagen, alles, was sie als Journalistin je veröffentlicht hatte.

 
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* Name von der Redaktion geändert

 

https://woman.brigitte.de

 

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